Unbenannte Seite

Ulmann-Matthias Hakert

Kontemplation

Ein unbeleuchteter Raum, an den Wänden hängen auf Augenhöhe und in gleichmäßigen Abständen sogenannte Audience Blinder, rechteckige Kästen aus schwarzem Metall, in denen jeweils vier runde Scheinwerfer nebeneinander sitzen. Nach einem Ruhezustand beginnt ein tiefes Brummen, ein gleichmäßig schwingender Basston, danach eine Pause. Die Scheinwerfer beginnen zu glimmen, wenn der den gesamten Körper erfassende vibrierende Ton wieder zu hören ist. Dasselbe ist nach einer zweiten Pause zu hören und zu sehen. Auf eine dritte Pause folgt gleißendes Scheinwerferlicht. Bei dieser vollen Auslastung der Leuchten ist ein schriller stehender Ton zu hören. Das wiederholt sich nach einer weiteren Pause, dann zwei weitere Wiederholungen des tiefen Tones mit glimmenden Scheinwerfern und noch einmal der schrille Dauerton mit hell weißem Licht. Nach einer Pause beginnt die gleiche Sequenz von vorn. Das deutlichste Prinzip ist die Kopplung von Tonhöhe und Lichtintensität. Neben den akustischen und den visuellen Ereignissen gibt es Temperaturschwankungen. Das volle Licht der Scheinwerfer heizt die Luft im Raum sehr schnell auf. Sind sie erloschen, ist in der Stille zwischen den elektronisch erzeugten Sinustönen ein klickernd rinnendes Geräusch zu hören: das Abkühlen der Leuchten.

Der Wechsel von Stille und Geräusch, von Dunkelheit, Glimmen und blendendem Licht richtet sich in seinem dramaturgischen Aufbau nach einem möglichen Betrachter. Es wird eine wahrnehmende Person konstruiert. Deren Erwartungen an Ereignishaftigkeit werden im Wechsel mit Ereignislosigkeit antizipiert. Die Wahrnehmung wird an ihre Grenzen geführt. Die tiefen Töne liegen knapp über der Schwelle zum Hörbaren. Der hohe Ton liegt knapp unter der Schwelle des nicht mehr Wahrnehmbaren. Die langwelligen tiefen Töne breiten sich spürbar im Raum aus und dringen aus dem Raum in die weitere Umgebung vor. An verschiedenen Stellen innerhalb des Raumes ist dieser Ton kaum zu hören – »hörbare« Wellentäler der langschwingenden Töne. Der hohe stehende Ton, mit kurzen hohen und tiefen Amplituden, dringt kaum aus dem Raum. Er ist hart an der Schmerzgrenze, steigt einem zu Kopf und liegt beängstigend nah an dem als Pfeifen im Ohr bekannten Tinnitus. In Kombination mit dem blendend weißen Licht der Scheinwerfer lässt der unerträglich hohe Ton die Rückkehr der Stille wünschenswert erscheinen. In den Intervallen zwischen den akustischen und visuellen Signalen wirkt die knisternde Stille jedoch bedrohlich. Und selbst die tiefen Töne lassen sich nicht unbedingt als angenehm beschreiben. Das Vibrieren dieser in die Eingeweide dringenden Sinustöne kann Übelkeit erzeugen. Bis zu dem Punkt, wo eine sich wiederholende Sequenz erfasst wird, tendiert das Hören, Sehen und Warten eher dazu, Betrachter zu vertreiben.

Der Besucher selbst löst aus, was er hört und sieht. Am Eingang zu dem beschriebenen Raum ist ein Sensor installiert. Die Sequenz von Pausen, Tönen und Licht wird, ohne dass die Betrachter dies bemerken, beim Betreten oder Verlassen des Raumes gestartet. Bei der Installation von > WHITE NOISE in der Berliner Nationalgalerie (Hamburger Bahnhof) war zu beobachten, dass Besucher sich dem offenen Durchgang zu dem Raum näherten ohne ihn zu durchschreiten. Wo sonst Bilder hängen, sind nur Lampen zu sehen. Aber die Scheinwerfer leuchten nicht. Stattdessen ist es dunkel in dem Raum. Es sind noch Kabel und Lautsprecher zu sehen, sonst nichts – auch kein Hinweisschild: »Außer Betrieb«. Wer nicht neugierig genug ist, verlässt möglicherweise die Ausstellung, ohne die elektronische Performance jemals gesehen zu haben. Andere gehen so vorbei und werden zurück gelockt, wenn ein Besucher den Raum von > WHITE NOISE betreten hat und damit das Ereignis auslöst. Mancher hört das tiefe Brummen in anderen Ausstellungsräumen, während er Bilder, Objekte oder Skulpturen betrachtet. Den Wellen zu ihrer Quelle folgend sieht er vielleicht nichts oder gerade noch ein Glimmen. Vielleicht ist das glimmende Licht nicht reizvoll genug, den Raum zu betreten. Der tiefe Ton breitet sich weithin aus, auch vor dem Raum: genug gesehen und gehört. Obendrein ist der vibrierende tiefe Ton nicht angenehm. Vielleicht ist dann die plötzliche weiße Flut von Licht ein Anlass den Raum zu betreten. Aber mit offenen Augen ist die Lichtmenge nicht zu ertragen.

> WHITE NOISE lässt in einer quasi experimentellen Anlage Hören hören und Sehen sehen, Hören sehen und Sehen hören. Die akustischen Frequenzen liegen im Grenzbereich des Wahrnehmbaren: der tiefe Sinuston schwankt zwischen 60 und 70 Hertz. Der hohe Ton liegt bei 12.000 Hertz. Das physikalische Phänomen des weißen Rauschens (White Noise) entspricht weißem Licht. Dieses enthält das gesamte Spektrum sichtbaren farbigen Lichts und weißes Rauschen ist die Summe sämtlicher für das menschliche Ohr wahrnehmbarer Frequenzen. Der Klang von > WHITE NOISE steckt die akustischen Grenzen dieses Spektrums ab – ein metaphorisch hoch aufgeladener Ort. Obwohl weißes Rauschen keine Tonhöhe besitzt und keinen Rhythmus, werden in diesem Rauschen unvermeidlich Tonhöhen und Rhythmen wahrgenommen. Wahrnehmungspsychologisch ist darin eine Analogie zu dem Phänomen bei der Betrachtung von Tapetenmustern zu sehen, dass der Betrachter selbst in einem völlig gleichmäßigen und abstrakten Muster rhythmische Ordnungen sieht oder sogar Formen isoliert. In der Novelle »Die gelbe Tapete« von Charlotte Perkins Gilman [1] markiert diese »Betrachtungsleistung« eine psychische Störung. Die Überzeugungskraft des Textes beruht allerdings darauf, dass ein solches strukturierendes Sehen jedem vertraut ist. Diese Interpretation gleichförmiger Muster liegt also gewissermaßen im Normbereich. Dennoch weist sie auf eine Art Voreingenommenheit.

Dies wird an den Interpretationen von Betrachtern deutlich, die > WHITE NOISE wie Programmmusik verstehen. Ihr Verstehen dessen, was zu sehen und zu hören ist, ist offensichtlich kontextuell bestimmt. Bei einer Präsentation in Dresden, wollten Betrachter eine Anspielung auf die Brandbomben sehen, die Dresden am 13. Februar 1945 zerstörten.
Bei einer Ausstellung in Berlin wurde eine Beziehung zur Mauer hergestellt. Diese hatte früher nur unweit des Museums Hamburger Bahnhof gestanden. Aber auch die unmittelbare Umgebung war für die Lesart wesentlich. Traditionell bieten Galerien und Museen visuelle Eindrücke. Entsprechend beruhten jene mit > WHITE NOISE assoziierten bedrohlichen Bilder auf dem visuellen Eindruck: Das Licht wurde mit Brandbomben gleichgesetzt und vermutlich mit der Beleuchtung der Grenzanlagen. Der synthetische Klang von > WHITE NOISE weist keinerlei Ähnlichkeiten auf. Die Töne erinnern nicht an Explosionen. Der Mauer ist keinerlei spezifisches Geräusch zuzuordnen. Tatsächlich sind aber gerade die Stille, der dumpfe, fast als körperlicher Druck spürbare tiefe Klang und der schmerzhaft scharfe hohe Ton für die »emotive« Qualität des Gesamteindrucks verantwortlich. Würde zu dem gleißenden Licht Vogelgezwitscher zu hören sein, tauchte vielleicht das Bild der Sonne auf. Mit dem Klang von frenetischem Applaus wäre deutlicher, dass der Betrachter in diesem Raum wie auf einer Bühne steht. Das weiße Licht ist neutral und reine Projektionsfläche. Jeder bildhafte Eindruck entspricht der strukturierenden Wahrnehmung von weißem Rauschen. Weißes Rauschen ist aber auch das akustische Phänomen völliger Indifferenz – man hört Weiß, Nichts, Reinheit, »Weißes Quadrat auf weißem Grund« von Kasimir Malewitsch, etc.

In der Serie von Fotografien mit dem Titel > WEISSES RAUSCHEN ist die weiße Fläche das Ergebnis von Bildern. Ebenso wie bei den Fotografien der Serien > SHADOWS, > WHISPER und > BLUR und der Fotografie > SPIRAL wurden Fernsehbilder abfotografiert. »Der Fotoapparat bildet die Bildschirmoberfläche scharf ab. Durch den Geschwindigkeitsunterschied zwischen dem Ablauf der Bilder auf dem Bildschirm und dem Verschluss der Kamerablende werden die Fotos unscharf und machen Bewegungen auf dem Bildschirm sichtbar.« [2] In einer mechanischen Analyse filmtechnisch erzeugter Bilder von Bewegungen wird deren Verarbeitung durch das menschliche Sehvermögen bloßgelegt. Die in der Wahrnehmung des Betrachters verschmolzenen Einzelbilder
(25 pro Sekunde) erscheinen auf dem fotografischen Film neben- und übereinander. Belichtungszeit und Bildauswahl orientieren sich an einem Grenzbereich: Noch ist zu erkennen, dass da etwas nur undeutlich zu sehen ist. Und dennoch wirkt das Abfotografierte überwiegend ungegenständlich. Das als Figur oder Gegenstand Identifizierbare könnte die Ähnlichkeit von Wolkenbildern besitzen. Identifizierbar und dechiffrierbar ist zugleich mit dem Medium (Fotografie ist als mit Licht beschriftetes Material fast immer Abbildung von etwas) die fotografische Wirkung, dass Bewegung Unschärfe verursacht. Das Schemenhafte und Verwischte ist offensichtlich nicht das Ergebnis mangelnder Fokussierung.

Die Fotografien vermitteln nur indirekt einen körperlichen Eindruck, indem sie Bewegung abbilden. Sie sind fern der heftigen physischen Effekte der Einrichtung von > WHITE NOISE mit Ton und Licht. Die unterschiedlichen Wirkungen sind auf die Verschiedenheit der Medien zurückzuführen und darauf, welche Sinne angesprochen werden. Wenn ein Betrachter den Raum von > WHITE NOISE betritt, steht er auf einer Bühne. Dort geschieht ihm etwas. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass ihm dort weh getan wird. Den Fotografien steht der Betrachter eher unbehelligt gegenüber. Nur in metaphorischem Sinn begegnet er physischer Eindringlichkeit, indem etwa das farblose Licht und das Verwischte der Bilder an Röntgenaufnahmen erinnert. Allenfalls das Unvermögen, diese »Röntgenbilder« zu lesen, wirkt aggressiv: die Bilder bieten sich der Deutung an und entziehen sich zugleich. Dieser Frustration entkommt jedoch die längst antrainierte Betrachtung abstrakter Bilder. Eine analoge Haltung könnte auch der Betrachter der Licht-Ton-Installation einnehmen. Tatsächlich verliert das akustisch-visuelle Ereignis einiges an Bedrohlichkeit, wenn es als Sequenz rein musikalisch verstanden und in seiner bloßen Dauer erfasst wird. Kontemplative Indifferenz entkäme der Begegnung mit den eigenen Ängsten.

[1] Die Frau hinter der gelben Tapete, Hrsg. v. Birgit Fromkorth, S. 7 - 29, München 2000
[2] Lars Loehn, In dem Moment des Auslösens, in: Gunda Förster – Karl Schmidt-Rottluff Stipendium 2000, Ausstellungskatalog; Oktogon, Dresden, 02.10 - 05.11.2000 und Kunsthalle Düsseldorf 24.11.2000 - 14.01.2001

Katalogtext
> WHITE NOISE | DIS-APPEARANCE
Vedanta Gallery, Chicago, 2001
Charité, Berlin, 2001
> WHITE NOISE
> PHOTOGRAPHS
> DIS-APPEARANCE

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