Unbenannte Seite

Manfred Heinrich

Sehen ist Bewegung

Alles scheint immer in Bewegung zu sein. Ein Zeichen unserer Zeit. Ständig bewegen sich Dinge um uns herum. Entgleiten unserem Sehen ebenso wie feste und unverrückbare Objekte, denen wir uns in unserer Bewegung nähern. Immer weniger nehmen wir uns Zeit für bewusstes Wahrnehmen und beschauliches Sehen. Die Künstlerin Gunda Förster will uns diesen »bewegten« Akt des Sehens mit Ihren Diainstallationen vor »Augen« führen. Ihre Installationsräume sind im wahrsten Sinne des Wortes »sehenswert«.

Die Gruppe der Menschen, die das bewusste und beschauliche Sehen noch pflegen, wird immer kleiner. Erfolgreiche Fotografen beherrschen diese Kunst. Um das Motiv festzulegen, bedarf es einer bewussten Wahrnehmung des Gesehenen. Doch Menschen ohne Kamera nehmen sich immer weniger Zeit für diese Beschaulichkeit. Im Gegenteil, unsere Welt wird von optischen Reizen und einer stetig wachsenden Informationsflut immer mehr durchdrungen. Alles scheint dabei irgendwie in Bewegung zu geraten und wir bewegen uns mitten drin. Einen eigenartigen Charakter erhält dieses Spiel gerade in der Dunkelheit unserer Städte: Autoscheinwerfer rasen auf uns zu und entfernen sich wieder; auf Häuserdächer installierte Scheinwerfer schicken ihr Licht in kreisender Bewegung gegen den Himmel; illuminierte Werbeflächen verändern alle paar Minuten ihre Botschaften; Leuchtreklame windet sich in Pixelschriften Hauswände rauf und runter, um auf die neuesten Auslagen in den Schaufenstern aufmerksam zu machen; hinter Fenster pulsiert das phosphoreszierende Licht ständig laufender Fernseher. Das alles sehen wir in unserer Eile, ohne es wirklich wahrzunehmen. Der flüchtige Akt des Sehens ist unmittelbar an die Bewegung der Objekte oder an unsere Bewegung gekoppelt. Einer, der einen noch viel radikaleren Blick auf das Phänomen Wahrnehmung und Sehen warf, war der französische Philosoph Merleau-Ponty (1908-1961). Schon zur Mitte des letzten Jahrhunderts erkannte er, dass die Wahrnehmung die eigentliche Trägerin unserer Beziehung zur Welt und zu unserem Körper sei. Er begriff aber auch sehr schnell, dass Wahrnehmung eigentlich nicht mehr »wahr« genommen wird. Wir sind zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, so dass wir die Dinge, die ständig um uns herum niederprasseln, ausblenden. Für den Existenzialisten Merleau-Ponty ist Sehen dagegen stets ein Akt der Bewegung. Das Auge (der Körper) ist die Vorraussetzung dafür, dass wir sehen. So ist das Sehen auch unmittelbar verbunden mit Bewegung. Sehen und Bewegung greifen ineinander. »Was wäre das Sehen ohne jede Bewegung der Augen«, schreibt er in einem seiner philosophischen Essays. »Der Sehende nähert sich durch den Blick dem an, was er sieht.«

Bewegtes Sehen
Die Berliner Künstlerin Gunda Förster hat sich in Ihren Diainstallationen diesem sehr komplexen Thema des »bewegten« Sehens angenommen. In dem Katalogtext zu einer ihrer Arbeiten befindet Ulman Hakert sehr treffend: »Sehen ist Bewegung, die der Bewegung des Gesehenen begegnet«. Bewegung steht aber auch für Schärfe und Unschärfe. So entstehen Bilder, die im Merleau-Pontyschen Sinne für die nicht wahr genommene Wahrnehmung (Unschärfe) und für das bewusste Sehen (Schärfe) stehen. Mit ihren Dia- und Lichtinstallationen zelebriert Förster genau dieses Rätsel der Sichtbarkeit. So z. B. in ihrer Arbeit > BLACK-OUT-WHITE (Exposure), 2000 (zuletzt gezeigt in der Kunsthalle Mannheim, Juni 2003).

Raum als Organismus
Der Besucher tritt in einen etwa sieben Meter langen, acht Meter breiten und ca. fünf Meter hohen fensterlosen Raum ein. An jeder Wand ist jeweils ein Diaprojektor so angebracht, dass er auf die ihm gegenüberliegende Wand vollflächig ein Bild projiziert. Diese Bilder strahlen eine eigentümliche Kühle aus. Es sind schwarz-weiß Dias, deren Grauschattierungen durch Blautöne ersetzt sind. Jedes projizierte Dia scheint einen eigenen Rhythmus zu haben. Die Projektionsdauer ist gänzlich unterschiedlich, der Diawechsel wird mit lautem Klacken und Rauschen vollzogen. Es ist das Geräusch des Diahebers und des Lüfters, das Förster mit Mikrofonen abnimmt und über Lautsprecherboxen verstärkt. Und noch eine weitere Besonderheit kennzeichnet diese Arbeit: Der Diawechsel wird nicht durch eine vorprogrammierte Zeit vorgegeben, sondern richtet sich nach der jeweiligen Raumhelligkeit, die durch das Dia selbst produziert wird. Je dunkler es ist, um so länger bleibt das Dia stehen. Je heller es ist, um so schneller erfolgt der Diawechsel. Auf diese Weise ergeben sich Zufallssequenzen, so dass auch durchaus einmal alle Projektoren zur gleichen Zeit ihre Dias wechseln. Durch den permanenten Wechsel der Lichtintensität im Raum verändert sich ständig die Geschwindigkeit des Diawechsels bei jedem einzelnen Projektor und damit auch der Rhythmus des Klackgeräuschs. Mit der Zeit bekommt der Besucher ein Gefühl, dass dieser Raum »atmet«, einem eigenartigen, nicht fassbaren Organismus gleicht. Schon alleine die Tatsache, dass man selbst bei bester Positionierung im Raum, nie mehr als drei Wände auf einmal beobachten kann, lässt Unbehagen aufkommen. Irgendetwas spielt sich immer unsichtbar hinter dem Rücken ab. Ein erster Hinweis auf Sehen und Wahrnehmung?

Sichtbares und Erahnbares
Sehen ist wie wir ja anfangs beschrieben haben Bewegung. Und ein Teil dieser Bewegung führt der Betrachter selbst aus, um das Werk in seiner Gesamtheit erfassen zu können. Ein Effekt, der durchaus von Förster in ihre Rauminstallation eingeplant ist. Der andere Teil der Bewegung ist durch das Bildmaterial gegeben. Die Künstlerin fotografiert keine Realbilder. Ihre Motive fotografiert sie direkt vom Fernseher ab. Es sind Details der laufenden Bilder. Hierzu dreht sie aus dem Fernseher die Farbe raus, um möglichst kontrastreiche Bilder zu erhalten. Diese werden dann auf normalen Diafilm abfotografiert, wodurch die eigentümlich schwarz-weiß-blauen Bilder entstehen. Durch den Unterschied zwischen der Verschlusszeit (1/60 s) und der Bildfrequenz des Fernsehers 1/25 s) werden die Fotos »unscharf« und machen Bewegungen auf dem Bildschirm sichtbar. Schließlich werden die Bilder durch Ausschnittsbestimmungen so verfremdet, dass diese Fragmente nicht mehr auf ihren Ursprung rückführbar sind.
Es entsteht ein Grenzgang zwischen Sichtbarem und Erahnbarem, zwischen dem im Merleau-Pontyschen Sinne Sehen und dem Wahrnehmen.

Ausblick - Einblick
Wer sich in Gunda Försters Installationsräume begibt, der kommt automatisch in Bewegung. Ihre Arbeiten setzen stets diese Interaktion zwischen Betrachter und dem Geschehen im Raum voraus. Ihre aus dem Medium TV gefilterten Bilder sind so reduziert, dass jeder Versuch, die Arbeiten an den Bildinhalten festzumachen, zum Scheitern verurteilt ist. Unbemerkt geraten wir dabei auch innerlich in Bewegung und aktivieren unsere eigenen Bilder, Erinnerungen. Von Daniel Birnbaum ist das folgende Zitat: »Es geht nicht um das, was wir vor Augen haben, sondern um das, was sich dahinter befindet – um das, was Sehen voraussetzt«. Treffender kann man Gunda Försters Arbeit nicht mehr beschreiben. Arbeiten der Künstlerin können ab Juli 2004 in der Kunsthalle Mannheim besichtigt werden.

in: fotoforum, # 1/2004, Februar – April, S. 94f

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